Wieso wird ein einfacher Soldat mit einer Gedenktafel im Dom geehrt? Wer hat das erste Foto von dem Wahrzeichen geschossen? Woher stammt der Stein für das Gebäude? Robert Boecker beantwortet diese und andere Fragen in seinem Buch "Ich fürchte, Herr Pastor, wir sind bestohlen".
Autor Robert BoeckerDHB: Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Dom?
Boecker: Seit 1989. Während meines Volontariats bei der Kirchenzeitung habe ich eine Rezension zu Wolf Schneiders Buch über den Dom geschrieben. Es ist exzellent geschrieben und hat mich in seinen Bann gezogen. Daraufhin hab ich angefangen, selbst eine Reihe über den unbekannten Dom für die Kirchenzeitung zu schreiben. Der erste Artikel handelte von den Domschweizern, denn wer sie zu Freunden hat, dem eröffnen sich ungeahnte Freiräume. So konnte ich auf Entdeckungsreise gehen. Auch sammle ich privat alles, was mit dem Dom zu tun hat. Ich besitze unter anderem Literatur aus dem 18. und 19. Jahrhundert und Fotografien aus dem 19. Jahrhundert, darunter auch ein Original des ersten Fotos, das vom Dom gemacht worden ist, am 29. Juni 1853 von Johann Franz Michiels. Das habe ich bei einer Auktion in Süddeutschland für 250 Mark erstanden, und war enttäuscht, weil es so blass ist. Es gibt nur etwa fünf Originale. Auch das Kölner Stadtarchiv hat eines erworben – für 5.000 DM. Als ich das sah, erkannte ich, dass mein Abzug wesentlich besser ist. Die Blässe ist dem Alter geschuldet.
DHB: Haben Sie eine Lieblingsgeschichte?
Boecker: Die von Lorenz Call, dem einzigen Soldaten aus Köln, der bei Waterloo gefallen ist, im Kampf gegen Napoleons Truppen. Ich wollte wissen, warum ein einfacher Soldat eine Gedenktafel im Kölner Dom erhalten hat. Eine Ehrung, die sonst nur Fürsten vorbehalten gewesen ist. Die Tafel wird im ersten Domführer von 1821 kurz erwähnt – und ich habe angefangen zu recherchieren, bin auch nach Waterloo gefahren, wo damals Zehntausende Soldaten elendig verreckt sind. Im historischen Archiv des Erzbistums habe ich schließlich in einer Akte die Antwort gefunden: Auf Anordnung des preußischen Königs mussten damals Gedenktafeln mit den Namen der Gefallenen in den jeweiligen Pfarrkirchen ausgestellt werden. Da damals das Erzbistum aufgehoben war, diente der Dom als Pfarrkirche und die Mutter von Lorenz Call wohnte in der Dompfarrei. Auch wenn die Tafel nicht mehr hängt, ist doch die Erinnerung an ihn durch diese Geschichte lebendig geblieben, wie ich in "Der Tod hat einen Namen" in meinem Buch schildere.
DHB: Warum das Buch?
Boecker: Ich wollte journalistisch aufbereitete Episoden erzählen, die Informationen enthalten, aber vor allem Spaß machen sollen. Menschliche Geschichten, um die Leser für den Dom zu begeistern. Wichtig ist mir auch, dass 2 Euro pro verkauftes Exemplar an den Zentral-Dombauverein zu Köln gehen, einem Traditionsverein zum Wohl des Doms aus dem 19. Jahrhundert. Es sind schon 10.000 Euro an Spenden zusammengekommen.
DHB: In Ihrem Buch kommen auch viele Handwerker vor.
Boecker: Das ist ein Universalkosmos an Gewerken: Goldschmiede, Steinmetze, die Glaswerkstatt, Tischler, Zimmerleute, Schmiede, Dachdecker. Nicht alle sind fromm, aber am Dom zu arbeiten ist für sie etwas Besonderes. Zum Teil kommen sie jeden Tag aus der Eifel – gerade die Steinmetze – und fahren zwei Stunden jeden Morgen. Es sind oft Menschen, deren Familien seit Generationen hier tätig sind. Die Steinmetze kennen sich mit dem Material aus: Es macht einen Unterschied, ob jemand Grabmale schlägt oder Wasserspeier aus dem Stein befreit. Ich habe den Hüttenmeister und den Steintechniker einmal nach Böhmen begleitet, um den Steinbruch zu sehen, aus dem der Stein kommt. Früher war das der Drachenfels, der steht seit dem 19. Jahrhundert unter Naturschutz. Am Dom werden mehrere Steinsorten verbaut, sehr viel französischer Kalkstein und Sandstein aus Böhmen. Wenn sich die Fachleute dort die Steinblöcke ansehen, ahnt man, dass sie schon eine Vorstellung davon haben, was daraus wird. Das finde ich bewundernswert. Ein besonderes Verhältnis habe ich auch zu den Gerüstbauern. Das sind taffe Jungs, die da oben so ein Gerüst konstruieren. Davor habe ich allergrößte Hochachtung.
"Allergrößte Hochachtung“ hat Autor Robert Boecker für die Leistung der Gerüstbauer, die in luftiger Höhe ihre Präzisionsarbeit leisten und dabei stets gut gelaunt bleiben. Foto: © Archiv Robert Boecker
DHB: Haben sie einen Tipp für Besucher?
Boecker: Im Dom gibt es so viel zu sehen, man wird erschlagen von all den Eindrücken. Mein Tipp wäre, die Augen für das Kleine, Feine, für die Details zu öffnen. Beispielsweise den Mosaikfußboden im Chorumgang. Mich beeindruck immer wieder das Gerokreuz, mit der ersten erhaltenen Monumentalfigur des gekreuzigten Jesus. Es entstand Ende des 10. Jahrhunderts. Wenn man es näher betrachtet, zeigt sich die Kunstfertigkeit des Menschen, der es damals aus einem Stamm geschnitzt hat.
DHB: Was war die jüngste Geschichte über den Dom, die Sie überrascht hat?
Boecker: Im vergangenen Jahr erhielt die Dombauverwaltung einen Anruf aus den USA. Der Erbe eines früheren amerikanischen Soldaten hatte nach dem Tod seines Vaters einen im Haus versteckten Karton gefunden. Darin lag ein kleines Steinköpfchen mit einem Zettel: "Dieses Köpfchen stammt vom Kölner Dom". In der Familie galt die Legende, dass der Soldat es hier nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden, als Andenken mit in die USA genommen und dann Gewissensbisse bekommen habe. Jetzt ist es von seinen Angehörigen nach Köln zurückgebracht worden. Eine Restauratorin meinte zu erkennen, wo der Kopf herstammen könnte, weil dort gerade restauriert wurde. Die Kunsthändlerin aus den USA, die die Übergabe vermittelt hat, ist auf das aufgebaute Gerüst gestiegen, hat das Köpfchen an die vermutete Stelle gesetzt – und es passte haargenau. Es ist faszinierend, wie sich so ein Kreis schließt. Das ist ein Stück weit Versöhnung zwischen zwei ehemals verfeindeten Völkern, wenn 72 Jahre nach dem Krieg etwas zurückgegeben wird. Das Köpfchen stammt aus dem 19. Jahrhundert, ist handgroß und ganz fein gearbeitet. Ich hab den Dombaumeister gefragt, ob die Angehörigen des Soldaten nicht als Erinnerung einen Gipsabdruck kriegen können – und habe selbst auch einen für meine Sammlung bekommen. Es handelt sich um den Kopf eines römischen Soldaten aus der Kreuzigungsszene.
DHB: Lässt die Faszination für den Dom bei Ihnen nie nach?
Boecker: Der Dom ist jedes Mal ein neues Wunder. Man kann ihn jeden Tag neu entdecken. Das Licht ist zu jeder Jahreszeit anders, die Sonne beleuchtet jeweils andere Details. Jeden Tag setzte ich mich für fünf Minuten in eine bestimmte Ecke, um zur Ruhe zu kommen. Es fasziniert mich, dass er von Menschen geplant und begonnen worden ist, die wussten, dass sie nie eine Chance haben würden, das Ergebnis zu sehen. Das hat in unserem Denken heute keinen Platz mehr. Die Fassade ist nach einem Originalplan aus dem 13. Jahrhundert gebaut worden; eins zu eins so umgesetzt, wie der ursprüngliche Baumeister sich das vorgestellt hat. Der Plan hängt jetzt im Dom, kann aber nur bei Führungen besichtigt werden, weil er sehr lichtempfindlich und deshalb hinter einem Vorhang verborgen ist. Der Original-Bauplan ist irgendwann verschwunden, doch als die Idee aufkam, den Dom zu vollenden, hat man ihn durch Zufälle wiedergefunden. Nach mehr als 300 Jahren Baustopp, entwickelt der 25-jährige Sulpiz Boisserée den wahnsinnigen Plan, sich dafür einzusetzen, den Dom zu vollenden. Er hat hochwertige Kupferstiche vom Dom im damaligen Zustand und vom vollendeten Dom anfertigen lassen und damit Werbung gemacht. Boisserée hat sogar Goethe für seine Idee begeistert und auch den preußischen Kronprinzen, der spätere König Friedrich Wilhelm der IV. So kam eine Wellenbewegung auf. Ein Freund Boisserées, der Architekt Georg Moller, besuchte zu der Zeit in Darmstadt eine Gaststätte und entdeckte dort auf dem Speicher die eine Hälfte des originalen Fassadenplans. Der war in den Wirren der Franzosenzeit um 1794 verloren gegangen. Er ist aus Pergament und fast drei Meter lang. Im Gasthaus hatte man ihn auf dem Speicher ausgelegt, um darauf Zwiebeln zu trocknen. Moller hat ihn nach Köln gebracht, die andere Hälfte ist in Paris gefunden worden. Jetzt hatte man die Bauzeichnung und wusste, wie man vorgehen sollte. Boisserée schaffte es im Anschluss, dass sich nicht nur Katholiken, sondern auch viele Protestanten und Juden an der Finanzierung des Dombaus beteiligt haben. Es war nicht nur wichtig die Kirche aus kunsthistorischen und religiösen Gesichtspunkten zu vollenden, der Dom wurde damals auch als Symbol der nationalen Einheit gesehen. Den Ausschlag gab 1814 ein Artikel von Joseph Görres im damals meinungsbildenden Rheinischen Merkur. Darin verbreitete er den Gedanken, den Dom als Zeichen des neu erwachten deutschen Nationalbewusstseins gegenüber Frankreich zu vollenden. Boissere und Görres haben sich gekannt, und ich wage zu behaupten, dass sie ihr Vorgehen abgestimmt haben, aber dafür gibt es keinen Beweis. Nach dem Artikel kam eine ganz andere Dynamik in die Sache, weil das Vorhaben dann eine politische Dimension annahm. Da sind viele Momente zusammengekommen, die im September 1842 dazu geführt haben, dass tatsächlich der Grundstein für die Fortsetzung des Baus gelegt worden ist. Maßgeblichen Einfluss bis heute hat der Zentral-Dombauverein, diese älteste Bürgerinitiative der Welt, in der sich heute fast 17.500 Menschen für den Dom engagieren, indem sie spenden, Mitgliedsbeiträge bezahlen und PR machen. Im vergangenen Jahr ist der Verein 175 Jahre alt geworden.
Eine Fürbitte für eine Unterweltgröße im Kölner Dom? Ein US-Soldat wird Dompfarrer? Eine barbusige Tänzerin verschönert die Fassade als Wasserspeier? In seinem Buch erzählt Robert Boecker, wie es dazu gekommen ist. Er hat viel Resonanz darauf bekommen, wie er sagt, und schon wieder neue Geschichten gesammelt, sodass er bald an einer Fortsetzung arbeiten wird.
Robert Boecker: "Ich fürchte, Herr Pastor, wir sind bestohlen"
J. P. Bachem Verlag, 128 S., 24,95 Euro.
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Text:
Melanie Dorda /
handwerksblatt.de
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