Sprengstoff für die Sozialkassen
Wie beim Klimaschutz sollte es auch in der Rentenversicherung mehr Generationengerechtigkeit geben, fordert der Präsident des Bundessozialgerichts, Prof. Dr. Rainer Schlegel. Was er damit meint, führte er in der Reihe "Politik im Dialog" von Handwerk.NRW aus.
Das Jahr 2024 ist nicht mehr so weit entfernt: Ab dann geht die sogenannte Babyboomer-Generation nach und nach in Rente. Was für die geburtenstarken Jahrgänge erfreulich ist, ist wegen der Überalterung der Gesellschaft der nächste Sprengstoff der Sozialkassen. Ein paar – bekannte – Zahlen belegen das. Derzeit müssen 100 Beitragszahler 56 Rentner finanzieren, 2030 müssen sie 67 und 2050 gleich 77 finanzieren. Und schon heute schießt der Staat Steuergelder zu den eigentlich beitragsfinanzierten Rentenzahlungen hinzu, 2021 waren es 107 Milliarden Euro, fast ein Fünftel des Haushalts.
Große Finanzierungslücken
Diskussionsrunde: Prof. Dr. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, zusammen mit Hauptgeschäftsführer Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke und Präsident Andreas Ehlert von Handwerk.NRW. Foto: © Wilfried MeyerHinzu kommt: Durch eine längere Lebenserwartung verlängern sich Rentenbezüge. 1960 lagen sie bei 9,9 Jahren, 2020 schon bei 20,2 Jahren. Gleichzeitig hat die Koalition, die wohlweislich in ihrem Vertrag keinen Passus zur Rentenversicherung hineinschrieb, das Versprechen abgegeben, zumindest bis 2025 das Rentenniveau bei 48 Prozent halten zu wollen, während der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen soll. Die Finanzierungslücke wird dadurch noch größer, weil Einnahmen und Ausgaben aus dem Ruder laufen. Und bei den Sozialversicherungsbeiträgen ist das nicht die einzige Baustelle: In der Gesetzlichen Krankenversicherung klafft ein Loch von 17 Milliarden Euro – und der Wunsch, Pflegekräfte besser zu bezahlen (wenn es sie denn überhaupt gibt), wird die Finanzierungslücke in der Pflegeversicherung noch größer werden lassen. Die einst festgeschriebene Beitragsgrenze von 40 Prozent der Sozialversicherung ist nicht haltbar.
Kosten nicht tragbar
"Jeder Euro mehr bei den Sozialabgaben erhöht die unproduktiven Kosten in unseren Betrieben und fehlt für notwendige Zukunftsinvestitionen", mahnte der Präsident von HANDWERK.NRW Andreas Ehlert. Mehr noch: "Jeder Euro mehr bei den Sozialabgaben schmälert aber auch das Netto der Beschäftigten." Die Folgen daraus sind klar: "Strukturreformen in den Sozialversicherungen sind überfällig", so Ehlert.
Generationengerechtigkeit gefordert
Engagierte Vortrag: Prof. Dr. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, über mehr Generationengerechtigkeit in der Rentenversicherung. Foto: © Wilfried MeyerAngesichts dieses Damoklesschwerts beschäftigte sich das Round-Table-Gespräch "Politik im Dialog", das Handwerk.NRW zusammen mit der Signal Iduna jährlich im Hauptzentrale des handwerksnahen Versicherers veranstaltet, mit der Sicherung der Sozialkassen. Vortragsgast der Dachorganisation des nordrhein-westfälischen Handwerks war der Präsident des Bundessozialgerichts, Prof. Dr. Rainer Schlegel, der sich selbst seit Jahren immer wieder kritisch mit den Finanzierungsgrundlagen des Sozialsystems auseinandersetzt. Seine These: Es gebe keinen Grund, bei der Generationenherausforderung der Stabilisierung der Sozialkassen nicht die gleiche Dringlichkeit zu vermuten wie bei der Klimawende.
Klima-Urteil als Vorlage
Hintergrund ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsbeschwerde zum Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021, in der die Bundesregierung Maßnahmen zur CO2-Reduzierung festgelegt hatte. Das Gericht zwang die Regierung, die Maßnahmen zu konkretisieren. Die Begründung: Es gelte zu vermeiden, dass die Zügel bei künftigen Generationen viel drastischer angezogen werden müssten, weil man früher bzw. in der Gegenwart nicht konsequent genug gehandelt habe. "Es geht dabei um Generationengerechtigkeit", sagte Schlegel und kam zu dem Schluss, dieses lasse sich ohne weiteres auch auf die Zukunftssicherung der Sozialversicherung übertragen.
Gerichte korrigieren Fehler
Angeregte Diskussionen (von rechts): Hans Hund, Präsident der Handwerkskammer Münster, Berthold Schröder, Präsident der Handwerkskammer Dortmund, Torsten Uhlig, Vorstand Signal Iduna, und Jochen Renfordt, Präsident der Handwerkskammer Südwestfalen. Foto: © Wilfried MeyerDas große Problem, so machte vor allem die Diskussion klar, ist die mangelnde Reformbereitschaft. Schließlich wisse man gerade bei der Rentenversicherung schon seit mehr als 20 Jahren um diese Problematik, so Schlegel. Aber man habe es sich zu bequem gemacht und könne offensichtlich nur auf große Katastrophen schnell reagieren. Oder, wie es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimagesetz vorgemacht hat, dass Gerichte zumindest per Urteil Fehlentwicklungen der Politik korrigiert.
Mehr Offenheit in der Politik
Es fehle, so der Konsens, gerade in der Politik an Ehrlichkeit, die die Wählerschaft lieber mit neuen Wohltaten betört als ihnen reinen Wein über die tatsächliche Situation einzuschenken. Politiker wollen wiedergewählt werden – und genau das stehe der schonungslosen Offenheit im Weg. Denn mit den drei möglichen Stellschrauben in der Rentenversicherung ließe sich zwar umsteuern, aber es geht ans Eingemachte:
- Absenkung des Rentenniveaus
- Erhöhung der Beitragssätze
- Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Handwerk fordert Reformen
Alles Themen, mit denen sich im Wahlkampf kein Blumentopf gewinnen lässt, weil sie Einschränkungen bedeuten. "Die Politik agiert nur noch – und das nicht nachhaltig", kommentierte Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, das Handlungsspektrum der Politik und machte klar, dass nicht alles finanzierbar sei. "Das Handwerk fordert daher eine große Reform der Sozialversicherung; es braucht mehr Generationengerechtigkeit!"
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Text:
Stefan Buhren /
handwerksblatt.de
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