Seit 2011 ist Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Seine Karriere startete er mit einer Bäckerausbildung im Dualen System, ehe er nach seinem Abitur Wirtschaftswissenschaft studierte, sich beim Forschungsinstitut für Berufsbildung im Handwerk und dem ZDH in Berlin beruflich weiterentwickelte, bevor er zum BIBB kam. Im Interview spricht der gebürtige Grevenbroicher über Auswege aus dem Fachkräftemangel im Handwerk.
DHB: Können Sie für das Ausbildungsjahr 2021 schon eine vorläufige Bilanz ziehen? Wie es im Vergleich zum letzten Jahr aussieht und vor allem auch verglichen mit 2019, also ein Vergleich mit der Vor-Corona-Zeit?
Esser: Die offiziellen Vertragszahlen bekommen wir erst Ende des Jahres und können uns nur an den Monatsberichten der Bundesagentur für Arbeit orientieren. Die Zahlen für die gemeldeten Ausbildungsstellen, wie auch die der gemeldeten Bewerber und Bewerberinnen, sind nach wie vor negativ. Aber: Wir gehen davon aus, dass sich wegen der Pandemie nicht alle Interessenten gemeldet haben, was auch erklärt, warum beispielsweise die Verbände positive Entwicklungen bei den Vertragszahlen signalisieren. Für das Handwerk sieht es demnach deutlich besser als 2020 aus, auch wenn im Vergleich zu 2019 nach wie vor ein negatives Ergebnis zu erwarten ist.
DHB: Hat sich Corona verstärkend auf den Rückgang der Ausbildungsdynamik ausgewirkt?
Esser: Wir hatten im Januar 2020, also kurz vor Corona, berechnet, dass wir Ende 2020 cirka 10.000 Ausbildungsverträge weniger gegenüber 2019 erwarten müssen. Das hat mit der demografischen Entwicklung zu tun, dem Bildungstrend und auch mit dem Strukturwandel, vor allem der Digitalisierung. Coronabedingt waren es dann tatsächlich über 57.000 Ausbildungsverträge weniger.
DHB: Wie viel ist denn der demografischen Entwicklung geschuldet?
Esser: Bis 2040 wird sich die Bevölkerungsstruktur erheblich verändern, mit immer mehr älteren und immer weniger jüngeren Menschen – was sich selbstverständlich massiv auf den Arbeitsmarkt auswirken wird. Wenn wir nicht spürbare Änderungen bei bestimmten Entwicklungen erreichen, wird das Handwerk in den nächsten zehn Jahren einer Fachkräftekatastrophe entgegensehen.
DHB: Fachkräftekatastrophe? Was sind die Ursachen?
Esser: Das hat vor allem mit dem Strukturwandel zu tun. Wir haben uns in den letzten 50 Jahren von der Industrie- zu einer Wissensgesellschaft entwickelt. Das geht einher mit einer Verkopfung der Tätigkeiten und der Berufe. Körperliche Arbeit in den Berufen wird weniger, die kognitiven, die geistigen Anforderungen werden mehr. Damit sind die Berufe attraktiver geworden, in denen viel geistig getan werden muss, während andere, in denen körperlich-handwerkliche Tätigkeiten eine wichtige Rolle spielen, im Ansehen verloren haben. Das setzt sich automatisch in der Attraktivität von Bildungswegen fort. Es sind die attraktiver, die das Lernen von Theorien betonen, als die, die stärker auf handwerklich-praktische Tätigkeiten ausgerichtet sind. Dass sich in vielen Berufsbildern des Handwerks natürlich auch dieser Strukturwandel vollzieht, wird leider immer noch weniger wahrgenommen. Das ist ein Kernproblem, wofür wir Lösungsmöglichkeiten brauchen, die sich auch zahlenmäßig niederschlagen.
DHB: Dann müssen Sie aber an das Bildungswesen insgesamt ran.
Esser: Dazu muss ich etwas ausholen. Studien belegen, dass für die Berufswahl vor allem zwei Komponenten eine mitentscheidende Rolle spielen: Was verdiene ich, und wie viel an Wissen, an Bildung, steckt in einem Beruf? Hinter beidem steht die Frage, wer wie in der Gesellschaft eigentlich angesehen ist. Also geht es jungen Leuten vor allem darum, einen Beruf zu ergreifen, der in der gesellschaftlichen Wertigkeit möglichst hoch angesiedelt ist. Die Schweiz hat deshalb schon lange die höhere Berufsbildung etabliert. In diesem Zusammenhang ist hier die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung in der Bundesverfassung verankert. In Deutschland haben wir einen Deutschen Qualifikationsrahmen auf dem Papier, auf den sich Sozialpartner und Ministerien bezüglich der Gleichwertigkeit, zum Beispiel von Meister und Bachelor, geeinigt haben – aber ohne rechtliche Verfasstheit. Die Konsequenz: Wenn nicht der Staat die Anerkennung fundiert trägt, wie soll sich eine solche Anerkennung in die Gesellschaft hinein entwickeln?
DHB: Sehen Sie eine Chance, dass hier in Deutschland auch ein solcher Rahmen kommen könnte?
Esser: Unbedingt! Es ist im Grunde alles vorbereitet. Man muss nur zur Tat schreiten und eine entsprechende Regelung, einen Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern realisieren. Österreich hat dies über ein Gesetz geregelt. Deutschland steht hier als Land des Dualen Systems hinter der Schweiz und Österreich zurück. Von daher müssen wir endlich zu einer Verrechtlichung des Deutschen Qualifikationsrahmens kommen, um die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung in unserer Gesellschaft von Grund auf glaubwürdig und damit auch in der Breite bekannt zu machen.
DHB: Auch über Zugangsvoraussetzungen lassen sich doch Bildungswege steuern.
Esser: So ist es. Schauen wir noch einmal in die Schweiz: Sowohl beim Wechsel von der Grundschule in das Gymnasium als auch später beim Übergang in eine Universität muss jeder einen gewissen Notendurchschnitt in den grundlegenden Fächern vorweisen. Bei uns in Deutschland ist der Weg auf ein Gymnasium nur in wenigen Bundesländern vergleichbar streng geregelt. Und auch die Zugänge in die Hochschulen sind bei uns viel offener als in der Schweiz. Das Resultat: Wir haben eine Studienabbrecherzahl, die nicht von Pappe ist. Sie liegt in den Universitäten bei rund 30 Prozent. Ein Studienplatz kostet im Jahr durchschnittlich 7.000 Euro. Da kommen erhebliche Kosten für die Steuerzahler jedes Jahr zusammen. Bei den Betroffenen baut sich über die Zeit viel Frust und Versagensangst auf. Deshalb liegt doch nahe, auch darüber nachzudenken, wie wir zu einer sinnvolleren Steuerung der Schulabsolventenströme kommen.
Zitat "Wenn wir nicht spürbare Änderungen bei bestimmten Entwicklungen erreichen, wird das Handwerk in den nächsten zehn Jahren einer Fachkräftekatastrophe entgegensehen." Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser Präsident des Bundesinstitutes für Berufsbildung
DHB: Eine Steuerung mit dem Ziel, den Fachkräftemangel im Handwerk zu kompensieren?
Esser: Wir brauchen eine offene Diskussion über die Frage, wie steuere ich die Kohorten, die aus den Schulen in die weiterführenden Ebenen kommen? Über die Anerkennung des Deutschen Qualifikationsrahmens hinaus müssen wir auch an der Frage arbeiten, wie wir den Anschluss hinbekommen von dem, was in der Schule als gebildet gilt und was sich dann in den Berufen niederschlägt. Die Gretchenfrage ist doch, wie sich die Verbindung von Bildung und Handwerk in der Gesellschaft herstellen lassen soll, wenn in der Schule Handwerk nicht mehr vorkommt? Wir müssen also überlegen, wie man beispielsweise das Thema Technik oder Technikbildung stärker in den Unterricht, in die Curricula bekommen und mit konkreten Beispielen aus der Wirtschaft anreichern kann.
DHB: Was ist mit Berufsorientierung und der Imagekampagne?
Esser: Imagekampagnen helfen uns hier nicht wirklich weiter. Wir müssen es schaffen, dass junge Leute und deren Berater, das sind vor allem die Eltern, aber auch Lehrer, viel mehr darüber wissen, was im Handwerk steckt, an Modernität, an Verdienst- und Karrieremöglichkeiten. Ein Beispiel: die Berufslaufbahnmöglichkeiten des Anlagenmechanikers für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Viele glauben, dass hier ausschließlich Sanitär- und Heizungsanlagen repariert oder installiert werden – ohne die eigentlichen Herausforderungen an informationstechnischem Wissen, an Mathematik, an Naturwissenschaft, an ökologischem Wissen zu erahnen, was Digitalisierung, Nachhaltigkeit und der Klimawandel mit sich bringen. Viele lehnen also aus einem falschen Bild heraus diesen Beruf ab. Nur: Was machen wir, wenn hier der Nachwuchs wegbleibt? Es gilt also wirklich ernsthaft zu überlegen, wie wir zu mehr Fachkräftepotenzial, gerade von den Gymnasien und den Gesamtschulen, kommen.
DHB: ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer hat ein Freiwilligenjahr im Handwerk vorgeschlagen, um gerade die "Fridays-forFuture"-Generation für das Handwerk als Umsetzer von Klimaschutz und Digitalisierung zu begeistern. Was halten Sie davon?
Esser: Letztendlich steht auch da die Idee dahinter, Angebote zu schaffen, bei denen junge Leute mehr über das Handwerk erfahren – und damit hat er zunächst völlig recht. Hier werbe ich jedoch zuvorderst für die weitere Verbesserung der Berufsorientierung – vor allem an den Gymnasien – mit Potenzialanalysen in der 7. Klasse, auf deren Basis Praktika vermittelt werden, die zu den Begabungen und Neigungen der Schülerinnen und Schüler passen. Ziel muss es sein, dass mit dem Ende der Schulzeit – und damit für alle Schulen verbindlich – eine Berufs- oder Studienentscheidung steht und hier in der Folge nicht mehr nachgearbeitet werden muss.
Das Interview führte Stefan Buhren.
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Text:
Stefan Buhren /
handwerksblatt.de
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