Im Juni können rund 373 Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger das nächste Europäischen Parlament wählen.

Die Handwerkskammern in Rheinland-Pfalz rufen dazu auf, am 9. Juni wählen zu gehen. Die HwK Koblenz zum Beispiel hat Plakatmotive im Stil der Imagekampagne entwickelt (Foto). (Foto: © Fotostudio Reuther, Koblenz)

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Interview: "Europa ist ein Trumpf für das Handwerk"

Die EU hat in der aktuellen Legislaturperiode zukunftsweisende Entscheidungen für das Handwerk getroffen, sagen Experten. Jetzt komme es darauf an, dass das Handwerk am 9. Juni zur Wahl geht, denn die Betriebe brauchen ein starkes Parlament.

Welche Vorteile bietet Europa dem Handwerk, was hat die Handwerksorganisation durch ihre Lobbyarbeit in der aktuellen Legislaturperiode für die Betriebe erreicht und was nervt die Unternehmer an der EU? Darüber haben wir mit Christiane Zügner, Referentin für Europapolitik bei der Handwerkskammer Koblenz, und Dr. Matthias Schwalbach, Geschäftsführer der HWK Trier und Leiter des Arbeitskreises Europa bei der Arbeitsgemeinschaft der rheinland-pfälzischen Handwerkskammern gesprochen.

Christiane Zügner Foto: © HwK Koblenz / Fotostudio ReutherChristiane Zügner Foto: © HwK Koblenz / Fotostudio Reuther

DHB: Die Handwerkskammern und der ZDH rufen dazu auf, am 9. Juni zur Wahl zu gehen. Warum ist das gerade in diesem Jahr so wichtig?
Christiane Zügner: Das Handwerk braucht ein starkes Parlament, denn nur so können wir die Interessen des Handwerks dort vertreten. Wir hören von vielen Seiten aus Europa, dass möglicherweise radikale Kräfte verstärkt ins Parlament eintreten und damit die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit unterwandert werden könnten. In diesem Jahr können erstmals junge Leute ab 16 wählen gehen. Es ist uns deshalb ein besonderes Anliegen, auch sie zu sensibilisieren, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Das Parlament hat in der aktuellen Legislaturperiode einige Gesetze verabschiedet, die für das Handwerk auf nationaler Ebene und in Rheinland-Pfalz wichtig sind. Gesetze, bei denen wir positiven Einfluss nehmen konnten und wo es sinnvoll ist, dass sie auf europäischer Ebene umgesetzt werden.

Dr. Matthias Schwalbach: Europa ist ein absoluter Trumpf für das Handwerk. Der Binnenmarkt ist eine starke Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg der Betriebe. Früher mussten Handwerker ihre Fahrzeuge an den Grenzen auspacken. Das mag man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Auch die Zahl der Grenzpendler hat sich in den letzten 20 Jahren verzehnfacht. Jeder zehnte Euro im Handwerk in der Region Trier zum Beispiel wird mit Luxemburger Kunden verdient. Dazu kommt, dass viele Pendler dort sehr gutes Geld verdienen, was ebenfalls in unserer Region Nachfrage entfaltet. Ohne Luxemburg wäre die Region Trier ein strukturschwaches Gebiet. Nicht nur Trier, die gesamte Großregion und ganz Deutschland profitieren von Europa. Auch sicherheitspolitisch oder was das menschliche Miteinander angeht, ist Europa alternativlos.

DHB: Welche Entscheidung der EU war zuletzt besonders positiv für das Handwerk?
Zügner:
Der größte Erfolg für das Handwerk ist der sogenannte "Data Act", der 2023 verabschiedet wurde. Zu Deutsch das "Datenzugangsgesetz", das eine große Bedeutung für die Digitalisierung hat. Es ist jetzt erstmals geregelt, dass Handwerker Zugriff auf Daten der Hersteller erhalten, wenn sie Installationen oder Reparaturen durchführen. Die Daten gehören künftig dem Verbraucher und nicht mehr dem Hersteller. Das ist ein großer Erfolg der Lobbyarbeit des Zentralverbands des Deutschen Handwerks mit Unterstützung der Handwerkskammern.

DHB: Haben Sie weitere Beispiele, was die EU in den letzten fünf Jahren zum Vorteil des Handwerks auf den Weg gebracht hat?
Zügner:
Um dem großen Fachkräftemangel zu begegnen, wird es zum Beispiel spätestens ab 2027 einen "EU-Talentpool" geben. Es geht darum, dass die EU gegenüber Drittstaatlern attraktiver wahrgenommen wird, damit wir vermehrt qualifizierte und geregelte Migration bekommen. Dazu gehören Partnerschaften mit Marokko, Tunesien und Ägypten. Das ist aus unserer Sicht enorm wichtig und ich hoffe, dass die EU das Ganze mit Leben füllt.

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Ein weiterer Punkt ist die Energieeffizienzrichtlinie für Gebäude, die in Deutschland ja sehr negativ dargestellt wurde. Auch mit Hilfe der Lobbyarbeit des Handwerks wurde die ursprünglich vorgesehene Sanierungspflicht für jedes einzelne Gebäude in Deutschland aufgehoben. Jeder Mitgliedsstaat muss nun gewisse Sanierungsziele erreichen. Perspektivisch ist diese Initiative der EU für das deutsche Bauhandwerk – das derzeit im Bereich des Wohnungsbaus einen Konjunktureinbruch erlebt – doch eine Chance.

Ein anderes Beispiel ist das gerade erst beschlossene "Recht auf Reparatur". Bei dem gesamten Bereich der Kreislaufwirtschaft ist das Handwerk traditionell vorne mit dabei. Zukünftig hat nun jeder Verbraucher ein Anrecht auf Reparatur, wenn ein Produkt innerhalb der Gewährleistungsfrist kaputt geht. Und dazu kommt noch ein einjähriges Gewährleistungsrecht. Das wird die betroffenen Handwerksbranchen – also Betriebe, die weiße Ware anbieten – oder Zweiradmechaniker sicherlich stabilisieren. Dieses Gesetz muss nun innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umgesetzt werden. Wir vom Handwerk fordern die Bundesregierung auf, den geplanten Reparaturbonus breit für alle Gewerke aufzulegen. Insgesamt war dies eine Legislatur mit zukunftsweisenden Entscheidungen für das Handwerk.

Dr. Matthias Schwalbach Foto: © HWK TrierDr. Matthias Schwalbach Foto: © HWK Trier

DHB: Betriebe kritisieren allerdings die überbordende Bürokratie der EU...
Dr. Schwalbach: Die Beispiele zeigen sehr eindrücklich, was Europa bewirken kann. Natürlich muss nicht alles aus der EU kritiklos hingenommen werden. Entbürokratisierung ist eine Kernforderung des Handwerks. Da muss Europa tatsächlich besser werden. Sonst gibt man denjenigen Nahrung, die Europa abschaffen wollen, und das darf nicht passieren. Ungefähr die Hälfte der Bürokratie ist aktuell auf EU-Vorgaben zurückzuführen. Dazu kommt, dass Deutschland leider ein Meister darin ist, diese Vorgaben besonders "streberhaft" umzusetzen. Ich denke dabei an die Datenschutzgrundverordnung, die bei uns viel strenger umgesetzt wurde als in anderen Ländern. Ein anderes Beispiel ist die Arbeitnehmerentsenderichtlinie, die Betriebe beachten müssen, deren Mitarbeiter in einem anderen EU-Land arbeiten. Die Anforderungen sind hier sehr unterschiedlich. Einige Länder, etwa Frankreich, bauen hohe Hürden auf und beziehen sich dabei auf EU-Recht.

In Deutschland sind knapp 61 Millionen Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt. Foto: © European Union 2021In Deutschland sind knapp 61 Millionen Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt. Foto: © European Union 2021

Solche Themen muss man angehen, aber ohne Europa insgesamt in Frage zu stellen. Natürlich hadern viele Unternehmer mit Entscheidungen aus Brüssel und beklagen die Regulierungsdichte, aber selbst mit diesen Nachteilen überwiegen die Vorteile deutlich. Das gilt nicht nur für Trier, sondern für ganz Rheinland-Pfalz. Viele Betriebe auch aus Koblenz, Mainz oder Kaiserslautern arbeiten grenzüberschreitend. Auch für sie konnten die Handwerkskammern durch ihre Kontakte einige Verbesserungen erreichen. Etwa, dass Formulare für grenzüberschreitende Tätigkeiten ins Deutsche übersetzt wurden oder dass Strafen abgemildert wurden, wenn man die Unterlagen mal vergisst.

DHB: Zum ersten Mal dürfen in diesem Jahr auch junge Menschen ab 16 wählen gehen. Können die Betriebe dazu beitragen, dass ihre Auszubildenden und jungen Gesellen positiv über Europa denken?
Dr. Schwalbach:
Am besten wäre es, wenn die Betriebe ihren Auszubildenden Praktika im Ausland ermöglichen würden oder wenn sie Sprachkurse fördern, damit sich die Jugendlichen verständigen können.

Zügner: Ich denke auch, dass Europa am besten erlebbar ist, wenn die jungen Leute ins Ausland gehen dürfen. Bei der Kontaktvermittlung und möglichen Förderprogrammen der EU wie "Erasmus+" helfen die Handwerkskammern. Die Jugendlichen kommen nach dem Praktikum oder Arbeitsaufenthalt im Ausland mit so einem breiten Horizont zurück – das bringt auch dem Arbeitgeber ganz viel.

Das Interview führte Kirsten Freund 

99 Prozent der Unternehmen in der EU sind klein oder mittelgroß In der EU gibt es 23 Millionen KMU mit rund 90 Millionen Beschäftigten. 99 Prozent der KMU haben weniger als 50 Mitarbeiter. Deshalb fordert das Handwerk die EU auf, immer auf die Bedürfnisse der kleinen Betriebe zu achten. "Wir brauchen Bagatellgrenzen und Vereinfachungen für diejenigen, die Unikate oder Kleinstserien fertigen", sagt Christiane Zügner.

Wahl-O-Mat Noch unsicher, wer am 9. Juni das Kreuz bekommen soll? Der "Wahl-O-Mat" hilft, die passende Partei oder politische Vereinigung zu den eigenen Positionen bei der Europawahl zu finden.  wahl-o-mat.de

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Text: / handwerksblatt.de

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