Das verflixte erste Jahr der Berufsausbildung
Viele Lehrverträge werden im ersten Lehrjahr gelöst. In ihrer Doktorarbeit hat Silke Lange nach den Gründen dafür geforscht und ein Konzept entwickelt, mit dem sich die Eingangsphase einer Ausbildung strukturieren lässt.
Dieser Artikel gehört zum Themen-Special Einstieg in die Ausbildung
Der Wechsel von der Schule in eine betriebliche Ausbildung ist ein großer Schritt. "Viele junge Menschen gehen zum ersten Mal richtig arbeiten. Sie müssen sich an ein vollkommen neues Umfeld gewöhnen und werden mit den beruflichen Anforderungen konfrontiert", erklärt Dr. Silke Lange, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Osnabrück. Doch nicht jeder hat dabei Erfolg. Laut dem aktuellen Berufsbildungsbericht wurden im Handwerk rund 53.000 Ausbildungsverträge vorzeitig gelöst – davon etwas mehr als 16.000 innerhalb der Probezeit und weitere knapp 17.000 bis zum Ende der ersten zwölf Monate. Das entspricht einer Quote von über 60 Prozent.
Kritische Phase in den ersten zwölf Monaten
"Nicht nur die Probezeit, sondern das gesamte erste Ausbildungsjahr scheinen kritisch zu sein", sagt Silke Lange. Deshalb hat sie die Berufsausbildungseingangsphase im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Beispiel eines gewerblich-technischen Berufs genauer untersucht. Ihre Wahl ist auf die Kraftfahrzeugmechatroniker gefallen. "Die Kfz-Azubis brennen für ihren Beruf, trotzdem ist die Lösungsquote relativ hoch." Dies könne also nicht – wie in der öffentlichen Diskussion häufig vorgebracht – nur mit mangelnder Motivation erklärt werden. Gründe könnten etwa körperliche Arbeit, anspruchsvolle Arbeitsprozesse oder zwischenmenschliche Konflikte sein. Spannend ist die Gruppe der Kfz-Mechatroniker aus Sicht der Forscherin auch aufgrund ihrer heterogenen Bildungsbiografien. "Vom Jugendlichen ohne Schulabschluss bis hin zum Studienabbrecher ist alles mit dabei."
Anforderungen können zu belastend sein
Betriebe stellen Anforderungen an ihre Auszubildenden. Welche das speziell im Kfz-Handwerk sind, hat Silke Lange in der Fachliteratur für ihre Dissertation recherchiert. So erwarten die Arbeitgeber etwa, dass sich die Auszubildenden schnellstmöglich mit den Abläufen in der Werkstatt vertraut machen. "Einige belastet es aber, dass sie die Arbeit körperlich beansprucht, Arbeitsmaterialien nicht sofort finden oder dass sie sich mit ihren meist älteren Kollegen vertraut machen müssen." Werden diese inneren Konflikte nicht gelöst, kann es dazu kommen, dass die Auszubildenden unzufrieden sind und die Ausbildung abbrechen.
Silke Lange hat ein Konzept entwickelt, mit dem sich die Berufsausbildungseingangsphase strukturieren lässt. Es orientiert sich an einem Modell von Abraham Maslow. Der amerikanische Psychologe hat eine Rangfolge von Bedürfnissen aufgestellt, die grafisch in Form einer Pyramide dargestellt werden. Die körperlichen Bedürfnisse bilden quasi das Fundament. Darauf aufbauend folgen Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse. An der Spitze der Bedürfnispyramide steht die Selbstverwirklichung.
Bedürfnisse der Azubis verändern sich
Die Berufs- und Wirtschaftspädagogin hat nach sechs Monaten und gegen Ende des ersten Ausbildungsjahres ausführlich mit Auszubildenden darüber gesprochen, wie sie mit den an sie gestellten Anforderungen umgehen. Am ersten Befragungszeitpunkt standen ihr 18 Kfz-Lehrlinge Rede und Antwort. Für das abschließende Gespräch konnte sie aus dieser Gruppe noch 14 interviewen. "Es hat sich eindeutig gezeigt, dass sich die Bedürfnisse der Auszubildenden im Laufe des ersten Ausbildungsjahres nach und nach verändert haben", fasst Silke Lange zusammen. So seien sie zu Anfang stark auf die unteren Bedürfnisebenen fokussiert gewesen. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung dagegen, etwa eigene Ideen einzubringen oder selbstständiger zu arbeiten, sei erst gegen Ende der zwölf Monate aufgekommen.
Lehrkräfte begeistert das Konzept
Silke Lange hat ihr Konzept bereits einigen Lehrkräften vorgestellt. "Die waren total begeistert." Eine ähnliche Resonanz erwartet sie von Ausbildern in den Betrieben. Die Forscherin weiß aber auch um die Schwächen ihrer Dissertation. Wegen der geringen Fallzahl sind die Ergebnisse nicht repräsentativ und beleuchten nur die Perspektive der Auszubildenden. "Ich würde die Studie gerne größer aufziehen, bräuchte dafür aber die entsprechenden finanziellen Mittel."
Silke Lange: Die Berufsausbildungseingangsphase – Anforderungen an Azubis und ihre Bewältigungsstrategien am Beispiel des Kfz-Mechatronikerhandwerks, Verlag wbv Media GmbH & Co. KG, 480 Seiten, 59,90 Euro. Zu bestellen im VH-Buchshop bei Michael Sasse, Tel.: 0211/3 90 98-26 oder per E-Mail.
Auch wenn der wissenschaftliche Beweis ihrer Theorie noch aussteht, hält Silke Lange das Strukturierungskonzept für praxistauglich. Ihr wichtigster Tipp: Ausbilder sollten die Bedürfnisse der Auszubildenden ernst nehmen. Gerade in den ersten Wochen sei es ratsam, sie behutsam an schwere Arbeiten heranzuführen und nicht gleich um 7 Uhr die anspruchsvollsten Tätigkeiten zu übertragen. Um ihnen die Orientierung in der ungewohnten Umgebung zu erleichtern, könnten Regale und Schubladen beschriftet werden.
Als weitere wichtige Faktoren zählt sie auf, dass die Auszubildenden einen festen Ansprechpartner haben und regelmäßig ein aufmunterndes Feedback bekommen. Die Botschaft sollte lauten: Ich weiß, dass du noch nicht alles kannst, aber ich helfe dir dabei, es zu lernen. "Das ist bei dem hohen Arbeitsdruck, der in den Kfz-Werkstätten herrscht, sicherlich schwierig", versetzt sich Silke Lange in die Lage der Betriebe, "aber es ist auch keinem damit geholfen, wenn wissbegierige und motivierte Auszubildende ihre Ausbildung abbrechen, weil sie überfordert werden."
Text:
Bernd Lorenz /
handwerksblatt.de
Kommentar schreiben