Das Abitur an einem Gymnasium und das anschließende Studium an einer Hochschule sind für viele junge Menschen und deren Eltern der Königsweg, um im Leben voranzukommen. Unter dieser Entwicklung leidet die berufliche Bildung und speziell das Handwerk. Denn wenn viele Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben, mangelt es an Fachkräften und potenziellen Nachfolgern, die einen Betrieb übernehmen wollen.
Als Präsident der Handwerkskammer Erfurt steht Stefan Lobenstein dem Trend zur "Über-Akademisierung" kritisch gegenüber. Aus seiner Sicht kann die Karriereleiter auch im Handwerk erklommen werden. In Thüringen gibt es seit einigen Jahren eine Alternative, die sich an die Schülerinnen und Schüler an beruflichen Gymnasien richtet. "Wir machen neugierigen jungen Menschen, die sich dem Handwerk verbunden fühlen, sich aber noch nicht für eine Ausbildung oder ein Studium entschieden haben, ein Angebot", erklärt der Konditormeister.
Handwerkergymnasium in Thüringen
Zusammen mit dem Thüringer Bildungsministerium und der Walter-Gropius-Schule in Erfurt wurde im Jahr 2016 das "Handwerkergymnasium" ins Leben gerufen. Inzwischen bieten drei weitere berufsbildende Schulen die Zusatzqualifikation an – die Andreas-Gordon-Schule (Erfurt), das Staatliche Berufsschulzentrum Kyffhäuserkreis (Sondershausen) und der Berufsschulcampus Unstrut-Hainich (Mühlhausen). Dort können Schülerinnen und Schüler, die am beruflichen Gymnasium das Abitur mit Schwerpunktfächern wie beispielsweise Bau-, Metall- oder Gestaltungstechnik ablegen möchten, im Rahmen des Unterrichts bereits den Teil III und Teil IV der Meisterprüfung absolvieren.
Zwei 14-tägige Pflichtpraktika
Deren betriebswirtschaftliche, rechtliche sowie arbeits- und berufspädagogische Inhalte werden in einem Wahlpflichtfach in der 11. Klasse sowie in einem Wahlfach in der 12. und 13. Klasse vermittelt. Zudem erhalten die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von zwei 14-tägigen Pflichtpraktika wichtige Einblicke in die Praxis und für die Berufswahl. "Die Schülerinnen und Schüler sollen die Arbeit in einem Handwerksbetrieb live erleben und ihre Talente und Fähigkeiten entdecken, so dass ihnen nach dem Abitur auch verschiedene Türen in eine Ausbildung offen stehen", verdeutlicht Lobenstein.
Teil III und IV der Meisterprüfung
Die Inhalte der Teile III und IV der Meisterprüfung werden im Rahmen der Zusatzqualifikation "Handwerkergymnasium" an den berufsbildenden Schulen vermittelt. Die Prüfung legen die Schülerinnen und Schüler vor einem Prüfungsausschuss der Handwerkskammer ab. "Dafür fällt – wie auch bei den Meisterschülern – eine Gebühr an", erklärt Stefan Lobenstein. Die Lehrgangsgebühren sparen sie sich dagegen. Diese finanziellen Einbußen für die Handwerkskammer Erfurt fallen für den Kammerpräsidenten aber kaum ins Gewicht: "Es handelt sich um eine geringe Zahl von Absolventen der vier Schulen, und der Imagegewinn ist viel höher zu bewerten als die entgangenen Einnahmen."
Schneller zum Meisterbrief
Das Handwerk braucht dringend Führungskräfte, Gründer und Nachfolger bestehender Betriebe. Das Handwerkergymnasium könnte dazu beitragen, dass der Mangel schneller behoben wird. Wenn sich die Absolventen des beruflichen Gymnasiums für eine Ausbildung entscheiden, können sie aufgrund des Abiturs die Lehre um ein Jahr verkürzen.
Da sie die Teile III und IV der Meisterprüfung bereits an der berufsbildenden Schule abgelegt haben, sind sie beim Besuch der Meisterschule in Vollzeitform auch rund ein halbes Jahr eher fertig. Statt in fünf bis fünfeinhalb Jahren haben die "Handwerksgymnasiasten" den Gesellen- und Meisterbrief schon in dreieinhalb bis vier Jahren in der Tasche.
Derzeit haben sich rund 300 Schülerinnen und Schüler an den vier berufsbildenden Schulen für das Handwerkergymnasium entschieden. "Zwischen zehn und 20 Prozent von ihnen machen eine Ausbildung im Handwerk", schätzt Stefan Lobenstein. Den Rest zieht es überwiegend an die Hochschule. Diese Entscheidung kann der Konditormeister nachvollziehen. "Wenn ich den Führerschein bestanden habe, will ich ja auch Auto fahren." Fraglich ist nur, ob es für jeden das richtige Verkehrsmittel ist. Anders ausgedrückt: Wen das Studium enttäuscht oder überfordert hat, dem steht der Weg ins Handwerk immer noch offen. "Und diesen Weg nutzen nicht wenige, wie eine Absolventenbefragung gezeigt hat."
Interesse anderer Bundesländer
Das Modell des Handwerkergymnasiums findet über die Grenzen von Thüringen hinaus Beachtung. "Das Interesse ist riesig", erklärt Stefan Lobenstein. Die Handwerkskammer Erfurt erhalte Anfragen aus ganz Deutschland, darunter zuletzt aus Baden-Württemberg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz.
Erfahrungen aus Brandenburg
Corina Reifenstein, Präsidentin der Handwerkskammer Cottbus Foto: © Studio 2.0 / HWK CottbusIn Südbrandenburg lehnt man sich bereits seit 2017 an das Thüringer Modell an. Die Handwerkskammer Cottbus hat es auf ihre Bedarfe angepasst. Dort firmiert es etwa unter der Bezeichnung "Berufliches GymnasiumPLUSHandwerk". Vier Oberstufenzentren (OSZ) berufsbildender Schulen sind daran beteiligt. Zum Schuljahr 2017/18 startete das Projekt am OSZ Cottbus und am OSZ Dahme-Spreewald. Im Jahr darauf kamen das OSZ Lausitz und OSZ Elbe-Elster dazu.
Fokus auf Berufsorientierung
Beim "Berufliches GymnasiumPLUSHandwerk" liegt der Fokus auf der Berufsorientierung. Entsprechende Inhalte werden den Schülerinnen und Schülern mit dem Schwerpunkt "Wirtschaft" am OSZ in den Fächern Wirtschaftswissenschaften, Rechnungswesen und im Seminarkurs "Berufs- und Studienorientierung" vermittelt.
Zweiwöchige Praktika sollen dazu beitragen, dass die Jugendlichen den Weg ins Handwerk finden. Dabei soll ihnen die Matchingplattform "praktikumswochen.de" helfen. Darauf werden regelmäßig neue Unternehmen aus der Region vorgestellt.
Praktika auch während Unterrichtszeit
2023 hat das Bildungsministerium in Potsdam die Rahmenbedingungen verändert. Zuvor konnten die berufsorientierenden Praktika in den Jahrgangsstufen 11 und 12 nur in den Ferien absolviert werden. Nun ist die Teilnahme daran auch während der Unterrichtszeit – etwa in Zeiten der Kursfahrten oder Projektwochen – möglich.
Die Praktikumsvarianten können die OSZ schulorganisatorisch unterschiedlich ausgestalten: feste Praktikumswochen in den Jahrgangsstufen 12 oder Integration von Praktika in den wöchentlichen Stundenplan (abhängig von den Möglichkeiten und den Anforderungen im Betrieb und Schule). Sie können in ein oder zwei Betrieben sinnvoll sein. Wünschenswert ist möglichst eine Umsetzung in zwei Betrieben, damit die Schülerinnen und Schüler mehr Erfahrungen sammeln. Es ist auch eine Splittung möglich: eine Woche in den Ferien, eine Woche als Studien-/Kursfahrt oder Projektwoche.
Teil III und IV der Meisterprüfung
Neben der Berufsorientierung umfasst das Projekt "Berufliches GymnasiumPLUSHandwerk" eine weitere Komponente. Während ihres dreijährigen Aufenthalts am Oberstufenzentrum können die Jugendlichen auf dem Weg zur allgemeinen Hochschulreife bereits Module der Meisterprüfung vorziehen, denn im Stundenplan sind 240 Stunden Betriebswirtschaftslehre und 80 Stunden Pädagogik enthalten. Sie werden als Teil III und IV der Meisterprüfung angerechnet, so dass die Abiturienten nach einer anschließenden (verkürzten) Lehre nur noch den fachtheoretischen und fachpraktischen Teil vor sich haben.
"Die Zahl der Jugendlichen, die neben dem Abitur auch die Prüfungen zum Meister Teile III und IV abschließen, steigt jährlich", freut sich Corina Reifenstein, Präsidentin der Handwerkskammer Cottbus. Mittlerweile nehme jeder fünfte Jugendliche diese Möglichkeit wahr. "Zahlreiche Jugendliche aus dem Projekt haben eine Ausbildung im Handwerk begonnen. Entsprechende Lehrlinge des Monats konnten bereits ausgezeichnet werden."
Handwerkergymnasium in Rheinland-Pfalz
Cornelia Willius-Senzer, Landtagsabgeordnete der rheinland-pfälzischen FDP Foto: © FDP-Fraktion RLPCornelia Willius-Senzer ist angetan vom Handwerkergymnasium. "Das Thüringer Modell ist sehr erfolgreich. Aus unserer Sicht spricht nichts dagegen, das Modell zunächst so für Rheinland-Pfalz zu übernehmen", erklärt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP im Landtag. "Sollte sich herausstellen, dass es gewisse Aspekte gibt, die wir anders machen sollten, dann machen wir das."
Werben um Unterstützung
Über die konkrete Ausgestaltung befinde man sich derzeit in Gesprächen mit dem von der SPD geführten Bildungsministerium. Für die Einführung des Handwerkergymnasiums in Rheinland-Pfalz benötigen die Liberalen allerdings auch eine politische Mehrheit. "Die FDP ist von den Vorteilen und der Sinnhaftigkeit überzeugt. Nun werben wir für weitere politische Unterstützung, vor allem in der Koalition."
Mit dem Start des Handwerkergymnasiums dürfte es nach Einschätzung von Cornelia Willius-Senzer frühestens zum Schuljahr 2025/2026 etwas werden. Eine interessierte berufsbildende Schule, mit der man etwa ein Pilotprojekt initiieren könnte, hätte sie in Mainz bereits an der Hand. "Bis dahin müssen wir im Bildungsministerium noch ein paar Bretter bohren."
Positive Rückmeldungen
Das Handwerk unterstützt sie in ihren Bemühungen. Vor allem die Handwerkskammer Rheinhessen weiß die Abgeordnete aus Mainz dabei an ihrer Seite. "Das hilft uns in den Gesprächen mit dem Bildungsministerium sehr. Auch die bisherigen Rückmeldungen aus den Unternehmen sind durchweg positiv. Das bestärkt uns darin, nicht nachzulassen", so Willius-Senzer.
Imagegewinn für das Handwerk
"Mit dem Handwerkergymnasium allein werden wir den Fachkräftemangel nicht beseitigen können. Es wird ein charmantes, elegantes Nischenprodukt bleiben", ist Stefan Lobenstein mit Blick auf die Zahlen überzeugt. Der Präsident der Handwerkskammer Erfurt wertet es aber als einen vollen Erfolg, dass vier berufsbildende Schulen in Thüringen die Zusatzqualifikation anbieten und dass andere Bundesländer großes Interesse daran zeigen. "Das Handwerkergymnasium ist ein totaler Imagegewinn für das Handwerk!"
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Text:
Bernd Lorenz /
handwerksblatt.de
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