Der Nachteilsausgleich ist ein wichtiges Instrument für die Aus- und Fortbildung behinderter Menschen. Kirsten Vollmer (hier bei einer Tagung der Handwerkskammer Trier im Jahr 2023), die am Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) seit über 20 Jahren zum Thema Inklusion und Teilhabe forscht, hat bei einer Veranstaltung in Bonn aktuelle Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für die Berufsbildungspolitik und -praxis vorgestellt. (Foto: © Constanze Knaack-Schweigstill)

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Baustellen und Hürden beim Nachteilsausgleich

Betriebsführung

Der Nachteilsausgleich soll behinderten Menschen dabei helfen, eine Berufsausbildung zu absolvieren. Die Umsetzung ließe sich aber noch verbessern. Vom Hauptausschuss des BIBB könnte ein wichtiger Impuls ausgehen.

Alle Menschen in Deutschland sollten einen Berufsabschluss erwerben können. Doch einigen von ihnen sind von vorneherein Grenzen gesetzt. Körperliche, geistige oder psychische Beeinträchtigungen können den Start ins Berufsleben erschweren. Für behinderte Menschen hat der Gesetzgeber deshalb ein Instrument geschaffen, das ihnen eine möglichst vollständige Inklusion und Teilhabe ermöglichen soll: den Nachteilsausgleich (siehe Kasten).

Rechtsgrundlage Der achte Abschnitt der Handwerksordnung (HwO) befasst sich unter anderem mit der beruflichen Bildung behinderter Menschen. Demnach sollen sie möglichst in anerkannten Ausbildungsberufen ausgebildet werden (§ 42p), wobei ihre "besonderen Verhältnisse" zu berücksichtigen sind (§ 42q). Ist dies nicht möglich, sollen die Handwerkskammern alternative Ausbildungsregelungen schaffen (§ 42r) – dies sind in der Regel Fachpraktiker-Ausbildungen. Alle drei Paragrafen gelten auch für die berufliche Umschulung und Fortbildung (§ 42s), damit beispielsweise auch für die Abschlüsse zum Fachwirt, Meister oder Betriebswirt. Der Begriff "Nachteilsausgleich" ist weder in der HwO noch im Berufsbildungsgesetz zu finden. "Er stammt ursprünglich aus der Sozialgesetzgebung und wird in der Praxis synonym für ,besondere Verhältnisse´ verwendet", erklärt Kirsten Vollmer vom BIBB. 

Diagnosekriterien der Weltgesundheitsorganisation WHO definieren, was als Behinderung gilt. Dennoch gibt es offenbar Unklarheiten, wer den Nachteilsausgleich beanspruchen kann. Kirsten Vollmer führt dies auf zwei Entwicklungen zurück: Einerseits ein verändertes Verständnis von Behinderung. Behinderung wird zunehmend als Ergebnis des Zusammenwirkens von individuellen Beeinträchtigungen und Barrieren in der Umwelt verstanden und daher der Abbau von Barrieren, die Teilhabe verhindern, in den Blick genommen. 

Zugleich führen zielgruppenübergreifende Inklusionsdiskussionen dazu, die Ausweitung von Instrumenten wie Nachteilsausgleich auch auf andere Personengruppen zu fordern, so die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Folgt man diesem Gedanken, könnte beispielsweise ein Migrant, der die deutsche Sprache nur unzureichend beherrscht, ebenfalls vom Nachteilsausgleich profitieren.

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"Es macht jedoch einen Unterschied, ob eine temporäre Beeinträchtigung wie ein Sprachdefizit vorliegt, das sich beheben lässt, oder ob es sich um eine lebenslange Beeinträchtigung wie eine Lese-Rechtschreib-Störung, Amputation oder Taubheit handelt. Berufsbildungsgesetz und Handwerksordnung sehen den Nachteilsausgleich aber ausschließlich für behinderte Menschen vor", so Kirsten Vollmer. 

Antrag auf Nachteilsausgleich stellen

Ein Antrag auf Nachteilsausgleich ist bei den zuständigen Stellen einzureichen. Im Handwerk sind dies in der Regel die Handwerkskammern. Erste Ansprechpartner dort sind die Ausbildungs- oder Inklusionsberater.

Mit dem Antrag auf Nachteilsausgleich müssen ärztliche oder psychologische Atteste oder Gutachten vorgelegt werden, die die Behinderung glaubhaft machen. Auf dieser Grundlage entscheidet die Kammer, ob und in welcher Form ein Nachteilsausgleich gewährt wird. An all diejenigen, die ihn in Anspruch nehmen wollen, richtet Kirsten Vollmer den dringenden Appell: "Der Facharzt oder Psychologe sollte ein möglichst aussagekräftiges Gutachten erstellen, das konkrete Vorschläge enthält, wie die diagnostizierte Beeinträchtigung im Rahmen einer Berufsausbildung ausgeglichen werden kann. Das hilft auch den für die Antragsbearbeitung verantwortlichen Personen und den Mitgliedern der Prüfungsausschüsse bei der Umsetzung."

Beispiele für den Nachteilsausgleich 

Dies gelte etwa auch für ein weit verbreitetes Phänomen wie die Legasthenie. "Nicht jedem Legastheniker ist in der Prüfung mit einer Zeitverlängerung geholfen", gibt die BIBB-Mitarbeiterin in der Stabsstelle "Berufliche Bildung behinderter Menschen" zu bedenken. Zielführender als der "Klassiker des Nachteilsausgleichs" könne beispielsweise die Nutzung eines Wörterbuchs oder die Umwandlung der Prüfungsaufgaben von schriftlicher in mündlicher Form sein.

Als weitere potenzielle Formen des Nachteilsausgleichs kommen aber je nach Behinderung auch die Anwesenheit einer vertrauten Person, die Durchführung der Prüfung im Ausbildungsbetrieb sowie längere oder häufigere Pausen infrage. Bei einer anerkannten Schwerbehinderung – die keine Voraussetzung für den Anspruch auf Nachteilsausgleich ist – kann die Anschaffung technischer Arbeitshilfen notwendig sein, deren Kosten die Integrationsfachdienste oder Integrationsämter übernehmen.

Rechtsanspruch ab dem ersten Tag

Mit der Zeit scheint sich der Mythos verfestigt zu haben, dass der Nachteilsausgleich nicht für die Ausbildung an sich gilt. Dazu dürfte die Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses aus dem Jahr 1985 beigetragen haben, die nur auf die Zwischen-, Abschluss- und Gesellenprüfungen eingeht. "Eine Behinderung stellt sich aber nicht erst mit der Prüfung ein. Insofern sollte der Nachteilsausgleich möglichst ab dem ersten Tag der Ausbildung angewendet und damit auch bereits für die Prüfung erprobt werden", empfiehlt Kirsten Vollmer.

Auch Meisterschüler können Nachteilsausgleich beantragen

Dies ermögliche dem Ausbildungspersonal im Betrieb und den Lehrkräften an der Berufsschule, die bestmögliche Kompensation für die Beeinträchtigung zu finden. Im Idealfall sprächen sich beide Lernorte sogar miteinander ab. Ebenfalls kaum bekannt ist nach ihren Erfahrungen, dass der Nachteilsausgleich auch für Fachpraktiker-Ausbildungen und für berufliche Fortbildungen beansprucht werden kann.

Publikationen Beim Bundesinstitut für Berufsbildung sind zwei Publikationen zum Nachteilsausgleich erhältlich: Kirsten Vollmer und Claudia Frohnenberg haben das Handbuch "Nachteilsausgleich für behinderte Auszubildende" für die Ausbildungs- und Prüfungspraxis verfasst. Im Fachbeitrag "Nachteilsausgleich in der Berufsbildung: Schlüssel und Stellschraube für Inklusion und Fachkräftequalifizierung" vermittelt Kirsten Vollmer aktuelle Erkenntnisse zur praktischen Umsetzung des Nachteilsausgleichs, die sie aus einer Befragung und einem Workshop gewonnen hat, und gibt Handlungsempfehlungen. Der Westdeutsche Handwerkskammertag gibt "Handlungsempfehlungen zum Verfahren des Nachteilsausgleichs für Prüfungsteilnehmer/innen in der beruflichen Erstausbildung und Weiterbildung". 

Einheitlichere Umsetzungspraxis

Im Oktober 2024 hat das BIBB zu einer Fachtagung eingeladen. Dort konnte Kirsten Vollmer rund 150 Teilnehmer begrüßen, mit denen sie ihre Erkenntnisse aus einer Befragung von Mitarbeitern der zuständigen Stellen geteilt hat. Dabei wurde untersucht, wie der Nachteilsausgleich in der Praxis umgesetzt wird.

Eines der zentralen Ergebnisse: Es gibt kein einheitliches Vorgehen, ob etwa die zuständige Stelle oder der Prüfungsausschuss darüber entscheidet, ob und in welcher Form der Nachteilsausgleich gewährt wird. "Um speziell diesen ,blinden Fleck' zu entfernen und um generell mehr Einheitlichkeit und damit auch Rechtssicherheit für die praktische Umsetzung zu erhalten, wünschen sich die bei den zuständigen Stellen für den Nachteilsausgleich verantwortlichen Personen mehr Orientierung", hat die Forscherin des BIBB aus einer schriftlichen Befragung und einer moderierten Gruppendiskussion erfahren. Sie wüsste auch schon, wer für diese Orientierungshilfe sorgen könnte.

Neue Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses 

2025 jährt sich die erste und bislang einzige Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses zum Nachteilsausgleich zum 40. Mal. Es wäre ein passender Zeitpunkt für einen aktuellen Impuls, denn Kirsten Vollmer vermutet in der Ausbildung behinderter Menschen noch sehr viel unausgeschöpftes Potenzial. Deshalb setzt sie große Hoffnungen auf eine neue Empfehlung des BIBB-Hauptausschusses zum Nachteilsausgleich, die die gewünschte Orientierung geben könnte. "Ließe sich diese Hauptausschuss-Empfehlung in die breitere Fachöffentlichkeit tragen, könnte man damit noch mehr behinderte Menschen für eine qualifizierte Ausbildung gewinnen, die zu einer Integration in den ersten Arbeitsmarkt führt", ist die wissenschaftliche Mitarbeiterin überzeugt, die seit über 20 Jahren zu diesem Thema forscht.

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Text: / handwerksblatt.de

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