Industriestrategie: "Die EU-Kommission vergisst das Handwerk"
Die EU-Kommission hat ihre Industriestrategie überarbeitet, um die Wirtschaft für den digitalen und ökologischen Wandel zu rüsten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen lassen den Wirtschaftsbereich Handwerk außen vor, kritisiert der ZDH.
Dieser Artikel gehört zum Themen-Special So mischt sich Brüssel in den Betriebsalltag ein
Die Europäische Kommission hat ihre überarbeitete Industriestrategie der EU vorgelegt. Sie will damit nach der Corona-Pandemie besser auf künftige Krisen reagieren können. Die Strategie soll die Wirtschaft für den den digitalen und ökologischen Wandel vorbereiten und dafür sorgen, dass sie wettbewerbsfähig bleibt.
"Dafür braucht es jetzt neue Investitionen in Menschen, in Technologien und in den richtigen, Fairness und Effizienz garantierenden Regelungsrahmen“, sagt Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager. Die Pandemie habe Abhängigkeiten in wichtigen strategischen Bereichen wie Halbleitern, Rohstoffen und pharmazeutischen Wirkstoffen offengelegt, die unter anderem durch Industrieallianzen überwunden werden sollen.
Erholung der Wirtschaft beschleunigen
Angesichts der Corona-Krise soll die Strategie die Erholung der Wirtschaft beschleunigen und die strategische Autonomie der EU stärken. Die zuvor getroffenen Prioritäten bleiben unverändert. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zielen darauf ab, den Binnenmarkt auch in Krisenzeiten widerstandsfähiger zu machen.
Mit der aktualisierten Strategie sollen jetzt die wichtigsten Indikatoren für die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft ermittelt und überwacht werden, dazu gehören die Binnenmarktintegration, das Produktivitätswachstum, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und öffentliche und private Investitionen und Forschung-und-Entwicklungs-Investitionen.
KMU und Start-ups unterstützen
Die sogenannte KMU-Dimension soll als Kernelement der neuen Strategie für eine bedarfsgerechte finanzielle Unterstützung sorgen. Sie sieht laut Kommission Maßnahmen vor, die es kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und Start-ups ermöglicht, den doppelten Übergang zu bewältigen.
"Der Binnenmarkt wurde durch Angebotsbeschränkungen, Grenzschließungen und Fragmentierung infolge der Corona-Pandemie auf eine harte Probe gestellt", so die Kommission. Die Krise habe deutlich gezeigt, dass der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital im Binnenmarkt unbedingt aufrechterhalten werden muss und der Markt weniger störungsanfällig sein sollte.
Schlüsselbereiche der Strategie
Die Kommission will:
- einen Vorschlag für ein Notfallinstrument für den Binnenmarkt und damit für die Zukunft eine strukturelle Lösung zur Gewährleistung des freien Personen-, Waren- und Dienstleistungsverkehrs im Krisenfall vorlegen. Es sollte mehr Transparenz und Solidarität garantieren und dazu beitragen, kritische Engpässe bei Produkten durch eine Beschleunigung der Verfügbarkeit zu beseitigen und die Zusammenarbeit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu stärken;
- die Dienstleistungsrichtlinie in vollem Umfang durchsetzen, damit die Mitgliedstaaten ihren bisherigen Verpflichtungen, einschließlich der Mitteilungspflicht im Hinblick auf die Ermittlung und Beseitigung potenzieller neuer Beschränkungen, auch tatsächlich nachkommen;
- die Marktüberwachung bei Produkten verbessern, indem die nationalen Behörden dabei unterstützt werden, die Kapazitäten zu erhöhen und die Digitalisierung im Bereich der Produktkontrollen und der Datenerhebung voranzutreiben;
- erhebliche Investitionen zur Unterstützung von KMU mobilisieren sowie alternative Streitbeilegungsverfahren konzipieren und umsetzen, um gegen den Verzug bei Zahlungen an KMU vorzugehen und um Maßnahmen zur Bewältigung von Solvenzrisiken für KMU bereitzustellen.
Die Pandemie habe den ökologischen und des digitalen Übergang stark beschleubigt. Daher reagiert die Kommission mit neuen Maßnahmen:
- Wege für den Übergang im Einvernehmen mit der Industrie, den Behörden, den Sozialpartnern und ggf. anderen Interessenträgern, zunächst aus den Bereichen Tourismus und energieintensive Industrien, gemeinsam gestalten. Damit könnte es möglich sein, nach dem Bottom-up-Prinzip eine genauere Vorstellung von Umfang, Kosten und Voraussetzungen hinsichtlich der Maßnahmen zu vermitteln, die zur Begleitung des doppelten Übergangs für die relevantesten Ökosysteme erforderlich sind und in einen umsetzbaren Plan zur Förderung der nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit münden;
- einen kohärenten Rechtsrahmen zur Verwirklichung der mit Europas digitaler Dekade und dem "Fit-für-55"-Paket angestrebten Ziele schaffen, unter anderem durch eine Beschleunigung der Einführung erneuerbarer Energiequellen und die Sicherstellung des Zugangs zu reichlich verfügbarem, erschwinglichem und CO2-armem Strom;
- im Sinne einer optimalen Nutzung des ökologischen und digitalen Übergangs KMU Nachhaltigkeitsberater zur Seite stellen und datengesteuerte Geschäftsmodelle fördern;
- Investitionen in Weiterbildung und Umschulung zur Unterstützung des doppelten Übergangs tätigen.
Mit den strategischen Abhängigkeiten der EU will die Kommission wie folgt umgehen, dazu:
- hat die Kommission eine Bottom-up-Analyse auf der Grundlage von Handelsdaten durchgeführt: Von 5200 in die EU eingeführten Produkten wurden in einer ersten Analyse 137 Produkte (mit einem Anteil von 6 Prozent am Gesamtwert der in die EU importierten Waren) in sensiblen Ökosystemen, bei denen in der EU eine hohe Abhängigkeit besteht, ausgewählt, vor allem in den Ökosystemen energieintensive Industrien (etwa Rohstoffe) und Gesundheit (wie pharmazeutische Wirkstoffe); untersucht wurden auch andere Produkte, die für die Unterstützung des grünen und digitalen Wandels von Bedeutung sind. Bei 34 Produkten (mit einem Anteil von 0,6 Prozent am Gesamtwert der in die EU importierten Waren) ist die Anfälligkeit unter Umständen höher, da diese Produkte möglicherweise nur ein geringes Potenzial für eine weitere Diversifizierung und Substitution durch EU-Erzeugnisse aufweisen. Die Analyse zeigt auch die Herausforderungen und Abhängigkeiten im Bereich der fortschrittlichen Technologien auf;
- präsentiert die Kommission die Ergebnisse von sechs eingehenden Überprüfungen über Rohstoffe, Batterien, pharmazeutische Wirkstoffe, Wasserstoff, Halbleiter sowie Cloud- und Spitzentechnologien, die zusätzlich Aufschluss über den Ursprung strategischer Abhängigkeiten und über ihre Auswirkungen geben;
- wird die Kommission in einer zweiten Runde Überprüfungen potenzieller Abhängigkeiten in Schlüsselbereichen durchführen, u. a. in Bezug auf Produkte, Dienstleistungen oder Technologien, die wie die erneuerbaren Energien, die Energiespeicherung und die Cybersicherheit für den doppelten Übergang von zentraler Bedeutung sind, und mithilfe der Beobachtungsstelle für kritische Technologien der Kommission ein Überwachungssystem entwickeln;
- arbeitet die Kommission darauf hin, internationale Lieferketten zu diversifizieren und internationale Partnerschaften im Sinne einer besseren Vorbereitung auf Bedrohungen zu pflegen;
- unterstützt die Kommission neue Industrieallianzen in strategischen Bereichen, in denen solche Allianzen das beste Instrument zur Beschleunigung von Aktivitäten darstellen, die sich ansonsten nicht entfalten könnten. Industrieallianzen werden dort gefördert, wo private Investoren dafür gewonnen werden, über neue Geschäftspartnerschaften und -modelle offen, transparent und wettbewerbskonform zu sprechen, und wo ein Potenzial für Innovation und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze besteht. Allianzen bieten eine breite und grundsätzlich offene Plattform, wobei besonders auf ihre Inklusivität für Start-ups und KMU geachtet wird.
"Es ist richtig, dass die EU-Kommission eine Strategie für Europa mit den notwendigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen vorschlägt, mit denen der Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie unterstützt werden soll", sagt Holger Schwannecke, Generalsekretär des Zentralverband des Deutschen Handwerks.
Holger Schwannecke Foto: © ZDH / SchuerringDenn nur mit einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik könne der Wiederaufbau gelingen. Allerdings seien die in der nun veröffentlichten Industriestrategie vorgesehenen Vorschläge und Maßnahmen auf die Industrie im engeren Sinne ausgerichtet und lassen andere Wirtschaftsbereiche außen vor, obwohl mit dem Wort "Industrie" im englischen Sprachgebrauch das gesamte verarbeitende Gewerbe einschließlich Handwerk gemeint sei.
Keine konkreten Maßnahmen fürs Handwerk
"Konkrete Maßnahmen für Handwerksbetriebe fehlen jedoch. Ein wirklich nachhaltiger Aufschwung lässt sich aber nur gemeinsam mit dem Handwerk gestalten. Dafür ist eine ausgewiesene KMU-Politik auf europäischer Ebene notwendig. Diese muss entsprechend differenzierte und konkrete Handlungsansätze beinhalten", fordert Schwannecke.
Das Handwerk brauche etwa den Zugang zu Daten über offene Schnittstellen, um aus einer Palette an industriell hergestellten und standardisierten Produkten für Kunden ein passgenaues Dienstleistungsangebot erstellen zu können. Bei der Entwicklung der vorgeschlagenen 14 Wirtschaftsfelder sollte die breit angelegte Innovationskraft des Handwerks genutzt werden.
Quellen: EU-Kommission / ZDH
Text:
Lars Otten /
handwerksblatt.de
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