Wenn Sie für Ihren Handwerksbetrieb keinen Azubi finden, sollten Sie es mal mit einem Lehrling versuchen, der ADHS hat. Sie finden das bescheuert, weil Sie schon genug Probleme mit Ihren Azubis haben? Kann sein. Oder auch nicht! Wahrscheinlich haben Sie nämlich schon mal einen solchen "Hypie" ausgebildet, ohne es zu wissen. Denn im Handwerk gibt es viele Betroffene – darüber sind sich die Experten einig. Der Dachdecker gehört sogar zu den drei nichtakademischen Traumberufen von Jugendlichen, die unter an einer sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden. Die beiden anderen sind übrigens die Berufe Notfallsanitäter und Feuerwehrmann...
Das überrascht Dr. Wilfried Hehr nicht. "Handwerksberufe bieten viele Vorteile für Jugendliche mit ADHS", erklärt der Leiter des psychologischen Dienstes beim Berufsbildungswerk Rummelsberg. Sie sind häufig mit Bewegung verbunden und körperlich anstrengend, "das tut ADHSlern gut", sagt der Diplom-Psychologe. Das Berufsleben sei außerdem strukturierter als die Schule – ein weiterer Vorteil für Jugendliche mit ADHS.
Sie lernen, wie man strukturiert arbeitet
Hehr kümmert sich in Rummelsberg um die ADHSler, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Sie bekommen dort – ähnlich wie zum Beispiel im Berufsbildungswerk Greifswald – eine besondere Förderung. In berufsvorbereitenden Maßnahmen werden die Betroffenen ein Jahr lang trainiert, lernen, wie man strukturiert arbeitet, Checklisten für seine Aufgaben anlegt und kontrolliert, ob die Arbeiten auch richtig erledigt wurden.
Das sind doch Selbstverständlichkeiten?! Nicht für Menschen mit ADHS! Deshalb, ganz ehrlich: Es kann auch eine ganz schöne Herausforderung sein, einen Lehrling mit ADHS auszubilden. Dazu kommt: Viele Jugendliche wissen inzwischen über ihre Störung Bescheid, verschweigen es aber bei der Bewerbung. Erschwerend kommt hinzu: Viele hoffen gegen den Rat ihrer Ärzte, dass sie in der Lehre ohne Medikamente auskommen. Die Folge: "Sie fallen häufig ohne ihre Medikamente auf die Nase", sagt Dr. Myriam Bea schonungslos. "Sie sind impulsiv und anstrengend."
Die Geschäftsführerin des Bundesverbandes ADHS-Deutschland glaubt trotzdem, dass die Ausbildung dieser Jugendlichen gelingen kann – wenn der Nachwuchs willig und der Ausbilder bereit ist, sich auf den ADHSler einzustellen. "Ideal für sie sind altmodische Ausbilder, die so eine Art Vaterfigur werden", betont Dr. Bea. "Und wenn das gelingt, können Handwerker einen hochloyalen und hochmotivierten Azubi bekommen, im besten Fall sogar einen Nachfolger für ihren Betrieb."
Das sieht der stellvertretende Vorsitzende von ADHS-Deutschland ähnlich. Viele Betroffene könnten sich leichter mit den Perspektiven in Ausbildung und Beruf anfreunden als mit der Aussicht, neun Jahre oder länger in Klassenzimmern gefangen zu sein, erklärt Diplom-Psychologe Dr. Johannes Streif: "Für sie ist das Werkzeug der bessere Schreibstift, der Arbeitsplatz der bessere Unterrichtsraum, der Meister der bessere Lehrer."
"Jeder hat eine Chance verdient!"
Magdalena Münstermann kann das bestätigen. Das Maschinenbauunternehmen im Münsterland hat vor einiger Zeit wieder einen Jugendlichen mit ADHS erfolgreich ausgebildet. Die Prokuristin war über die Störung informiert, der Jugendliche musste – wie alle anderen Bewerber – vorher ein Praktikum machen. "Wir müssen uns den Menschen ansehen, bevor wir uns entscheiden. Das gilt auch für Bewerber mit ADHS", betont Magdalena Münstermann, die Mitglied der Geschäftsleitung der Firma ist.
Die Probleme aus der Schulzeit tauchten im Betrieb kaum noch auf. Profitiert hat der Azubi dabei sicher von der klar strukturierten Ausbildung in dem Unternehmen, den regelmäßigen Feedback-Runden und einer Unternehmenskultur, die schon Azubis kleine Verantwortungsbereiche gibt und mit viel Lob und Anerkennung arbeitet. "Gerade Berufe, die viel Bewegung bieten, strukturiert sind und kleine Erfolgserlebnisse bringen, können so manche Schwäche kompensieren", betont die Unternehmerfrau: "Jeder, der will, hat eine Chance verdient."
Die Mühe kann sich lohnen!
Wer also den Verdacht hat, dass sein Lehrling betroffen ist, sollte sich zunächst einmal selbst informieren, daran mangelt es häufig, bedauert Dr. Streif. ADHS sei bisher kaum in das Bewusstsein von Berufsschullehrern, Ausbildungsleitern und Firmenchefs vorgedrungen: "Handwerksmeister und Personalchefs kennen meist nur schlechte Zeugnisse und schwierige Mitarbeiter." Dabei kann man sich heutzutage ohne großen Zeitaufwand informieren. Am schnellsten geht es im Internet – zum Beispiel auf der Seite von adhs-deutschland.de. Gute Tipps gibt es auch auf der Website stark-fuer-ausbildung.de, die eine Online-Version des Ausbilderhandbuchs enthält (siehe "Buchtipp").
Die Mühe kann sich lohnen, betont Dr. Hehr vom Berufsbildungswerk Rummelsberg. Zwei Drittel seiner Schützlinge finden am Ende eine Lehrstelle und schließen die Ausbildung erfolgreich ab: "Wenn man Menschen mit ADHS richtig behandelt, sind sie ein Gewinn für jedes Unternehmen!"
Was ist ADHS?
ADHS ist die am häufigsten diagnostizierte psychiatrische Störung im Kindes- und Jugendalter. ADHS bedeutet Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, wobei nicht alle Betroffenen hyperaktives Verhalten zeigen. Dann spricht man bisweilen auch von ADS. ADHS ist keine Modeerkrankung und tritt in allen Kulturen und Gesellschaften weltweit auf. Man geht davon aus, dass etwa sechs Prozent der Kinder- und Jugendlichen in Deutschland darunter leiden. Jungen sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen. ADHS ist eine Störung des Hirnstoffwechsels, die unter anderem mit Medikamenten gut behandelt werden kann, erklärt Dr. Streif: "ADHS-Medikamente sind keine Drogen und machen nicht süchtig, solange sie sachgerecht verschrieben und angewendet werden."
Auch Erwachsene können noch ADHS haben. Da die Störung biologisch angelegt ist, verschwindet sie am Ende der Kindheit nicht einfach. Durch das größere Maß an Selbstbestimmung, ist es für die Erwachsenen leichter, trotz ADHS zufrieden und erfolgreich zu sein. Experten gehen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent der betroffenen Kinder auch im Erwachsenenalter noch deutliche Symptome zeigen, das sind schätzungsweise etwa zwei Millionen Erwachsene in Deutschland. Mehr Informationen finden Sie im Internet.
Das sind ADHS-Symptome
Die typischen Symptome zeigen sich in drei Bereichen: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Menschen mit ADHS können ihr Verhalten schwer kontrollieren. Sie tun sich schwer, ihre Aufmerksamkeit auf Reize und Aktivitäten zu richten, die nicht ihr Interesse wecken. Ihre Offenheit für Sinneseindrücke aller Art macht sie leicht ablenkbar.
"Es fällt ihnen schwer, unwichtige Reize herauszufiltern und auszublenden", heißt es im Ausbilderhandbuch, einem gemeinsamen Projekt der DIHK-Bildungs-GmbH und der Zentralstelle für Weiterbildung im Handwerk.
Schwierige Gratwanderung im Umgang
Sie sind empfindlich gegenüber äußeren Reizen und neigen zu emotionalen und impulsiven Reaktionen. Die Betroffenen müssen sich angesichts der alltäglichen Reizüberflutung einerseits bewusst ausklinken, um zur Ruhe zu kommen und leistungsfähig zu sein. Andererseits brauchen sie viele Reize, um konzentriert arbeiten zu können, schreiben die Autoren des Handbuchs, das für das Ausbildungspersonal in kleinen und mittleren Unternehmen entwickelt wurde: "Eine schwierige Gratwanderung, die eine Unterstützung seitens Eltern, Lehr- und betrieblichem Ausbildungspersonal erfordert."
Menschen mit ADHS haben auch Stärken. Sie sind häufig kreativ, spontan, hilfsbereit und humorvoll. Ist ihre Leidenschaft geweckt, können sie sehr hartnäckig und ausdauernd sein. Sind Kollegen und Freunde, Lehrer und Betreuer, Ausbilder und Vorgesetzte ehrlich und gerecht, sind ADHS-Betroffene meist ausgesprochen dankbare und loyale Mitarbeiter. (ulo)
Checkliste: Azubis mit ADHS? 13 Tipps für Ausbilder
Die Diplom-Psychologen Dr. Johannes Streif und Dr. Wilfried Hehr haben praktische Tipps für den Umgang mit Jugendlichen zusammengestellt, die ADHS haben.
- Bauen Sie eine persönliche Beziehung zu Ihrem Azubi auf: freundlich, ehrlich, humorvoll, doch mit klarem Verweis darauf, wer der Chef ist. Zeigen Sie sich als guter Kollege, nicht aber als nachsichtiger Kumpel.
- Schaffen Sie Strukturen, die strikt eingehalten werden! Mit der Gewöhnung kommt eine Routine, die Sicherheit gibt und offen für neue Aufgabern macht.
- Fordern Sie, dass der Azubi seine Arbeitsmittel immer am gleichen Ort ablegt; nach Abschluss einer Tätigkeit sowie am Ende des Tages wird stets aufgeräumt.
- Legen Sie gemeinsam mit dem Azubi Checklisten für den Arbeitsablauf an. Hat der Lehrling schon etwas Erfahrung, soll er sie vor Beginn eines neuen Auftrags selbst anlegen. Pfrüfen Sie die Checklisten auf Vollständigkeit und Umsetzbarkeit und kontrollieren Sie die Aufgabenerledigung gemeinsam mit dem Azubi.
- Führen Sie Kontrollschritte ein. Teilen Sie besonders zu Beginn der Ausbildung komplexe Aufträge in überschaubare Aufgaben. Kontrollieren Sie dann gemeinsam, ob die einzelnen Schritte richtig und in sinnvoller Reihenfolg erledigt wurden.
- Wenn die Arbeit richtig erledigt wurde, loben Sie Ihren Azubi! Offenes Lob – auch vor anderen – motiviert alle Mitarbeiter; für Menschen mit ADHS ist es jedoch besonders wichtig, da sie eigene Leistungen oft nur schlecht einschätzen können und nach Jahren des Frusts in der Schule häufig ein negatives Selbstbild haben.
- Loben Sie aber nicht nur den Erfolg, sondern auch die Anstrengung. Menschen mit ADHS haben bereits viele Misserfolge erlebt, obwohl sie sich anstrengten. Loben Sie jedoch nur ein Bemühen, das tatsächlich lobenswert ist.
- Wird eine Aufgabe nicht richtig erledigt, ermitteln Sie gemeinsam mit dem Azubi, woran es liegt. Beharren Sie sachlich darauf, dass Vorgaben und Regeln eingehalten werden müssen.
- Lassen Sie sich auf Ihrem Fachgebiet auf keine Diskussionen ein, führen Sie von Zeit zu Zeit ein grundsätzliches Gespräch mit dem Azubi, das offen für Kritik und Veränderung auf beiden Seiten sein sollte.
- Lassen Sie dem Azubi Freiräume, solange er seine Aufträge gut erledigt. Stellen Sie möglichst wenige, jedoch wichtige Regeln auf, die dann unbedingt und ohne Diskussion eingehalten werden müssen.
- Verlangen Sie, dass der Azubi Terminerinnerungen zum Beispiel im Handy einrichtet und seine Arbeits- und Schulzeit vernünftig plant.
- Droht trotz allem ein Scheitern der Ausbildung, besprechen Sie mit dem Azubi (eventuell auch mit seinen Eltern, wenn alle damit einverstanden sind), welche Möglichkeiten es noch gibt. Ausbilder sollten keine psychologischen und/oder medizinischen Ratschläge geben. Außerdem können und sollten Sie keine Therapie, weder Psychotherapie noch Medikation, von auffälligen Auszubildenden verlangen.
- Sagen Sie dem ADHS-Betroffenen, dass Sie so, wie es derzeit läuft, keine Zukunft für einen erfolgreichen Abschluss der Ausbildung sehen. Legen Sie ihm nahe, zu überprüfen, was er selbst noch machen kann.
Das Berufsbildungswerk (BBZ) Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern bietet ADHSlern – ähnlich wie zum Beispiel das Berufsbildungswerk Rummelsberg – eine besondere Förderung. Das ADHS-Fachteam dort besteht seit 2004, zu ihm gehören vier Sozialpädagogen. Die Förderung beginnt damit, dass die Teilnehmer zunächst einmal verstehen, was sich hinter ihrer Störung verbirgt, erklärt Martin Meklenburg, Leiter des ADHS-Fachteams. Sie setzen sich mit ihren speziellen Schwächen und besonderen Stärken auseinander, sie bekommen in speziellen Coachings gezeigt, wie man strukturiert arbeitet, Checklisten für seine Aufgaben anlegt und kontrolliert, ob die Arbeiten auch richtig erledigt wurden. Kurz gesagt: Es geht um die Stärkung von alltäglichen Kompetenzen wie Ordnung, Pünktlichkeit, Kritik-, Konfliktfähigkeit und Teamfähigkeit.
"Handwerksberufe bieten viele Vorteile für Jugendliche mit ADHS", erklärt Sozialpädagoge Meklenburg vom BBZ Greifswald. Sie sind häufig mit Bewegung verbunden und körperlich anstrengend. "Monotone Tätigkeiten und langes Stillsitzen sind dagegen Gift für ADHSler." Beliebt seien deshalb zum Beispiel Berufe in der Holz- und Metallverarbeitung, die Mädchen interessieren sich für eine Ausbildung als Maler und Lackierer oder in den Zweiradgewerken.
Checkliste für den Berufsalltag mit ADHS-Azubis
Das sind einige der praktischen Tipps die Mitarbeiter des ADHS-Fachtteam vom Berufsbildungswerk Greifswald für den Umgang mit den ADHS-Azubis bekommen:
- Die Azubis sollten ihr Telefon ausschalten oder am besten beim Meister abgeben!
- Der Arbeitsplatz sollte nicht am Fenster sein – das lenkt zu schnell ab!
- Sorgen Sie für eine reizarme Umgebung mit so wenig äußeren Einflüssen wie möglich!
- Organisation ist alles! Dabei helfen Tages- und Wochenpläne genauso wie Checklisten.
- Regeln Sie Pausenzeiten klar und machen Sie sie sichtbar (Tafel, Aushang ...)!
- Sorgen Sie Tätigkeiten mit einem Wechsel von An- und Entspannung!
- Wenn die Konzentration des Azubis aufgebraucht ist, wechseln Sie zu monotonen Tätigkeiten!
- Lernen Sie sich selbst wahrzunehmen und zu stoppen, bevor Sie die Fassung verlieren!
- Verwenden Sie Timeout-Karten, sie funktionieren besser als viel Reden: Grün = Lob, Gelb = Vorwarnung, Rot = Es gibt eine Zeitstrafe, das heißt, der Azubi entfernt sich für fünf Minuten von seinem Arbeitsplatz, die er dann aber nacharbeiten muss.
- Vereinbaren Sie Sanktionen bei Fehlverhalten, aber gehen Sie sorgsam mit Sanktionen um.
- Vereinbaren Sie konkrete Ziele für beide Seiten im Vorfeld! Beispiel für einen solchen Deal: Meister: "Ich möchte, dass du heute bis zum Mittag die beiden Räder fertig eingespeicht hast!" Azubi: "Ja gerne, aber ich brauche bis dahin drei kleine Pausen zum Durchatmen."
- Wenn Sanktionen nötig werden, müssen sie sofort erfolgen, lassen Sie keine Zeit verstreichen!
- Schließen Sie Verträge mit dem Azubi ab – zum Beispiel über Belohnungen, wenn ihm etwas gut gelingt!
- Besprechen Sie Regeln, beide Seiten können dabei ihre Forderungen und Wünsche (schriftlich) äußern!
- Vorsicht mit Körperkontakt wie Schulterklopfer, klären Sie vorher, ob er gewünscht ist!
- Blickkontakt ist ein wichtiges Kommunikationsmittel!
- Disziplin ist wichtig, leben Sie sie vor und setzen Sie sie durch!
Mehr zum ThemaBuchtipp: DIHK-Gesellschaft für Berufliche Bildung – Organisation zur Förderung der IHK-Weiterbildung mbH (Hrsg.), Ausbilderhandbuch. Stark für Ausbildung, W. Bertelsmann Verlag 2016, 29,90 Euro
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Text:
Ulrike Lotze /
handwerksblatt.de
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